„Ich bin Feministin, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass eine Frau auf ihre persönlichen Erfahrungen, die Degradierung durch eine patriarchalische Kultur und ein von Profit, Gewalt und grenzenloser Destruktivität geprägtes Leben heute anders reagieren kann als durch Hinwendung zum Feminismus. Ich betrachte Frauen deswegen nicht als Heilsfiguren, aber als sensibler und wacher gegenüber Selbstvernichtungsstrategien und Allmachtsräuschen.“ - Marielouise Jurreit
Marielouise Jurreit lebt von 1972 bis 1980 in Bonn. Hier schreibt sie - viele Nachmittage sitzt sie im Lesesaal der Universitätsbibliothek am Rhein - das feministische Grundlagenwerk „Sexismus – Über die Abtreibung der Frauenfrage“, ein über 700 Seiten umfassendes Kompendium über Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis der Frauenbewegung. Das Buch erscheint 1976, wird ins Englische und Schwedische übersetzt und allein in Deutschland werden an die 50.000 Exemplare verkauft.
Einerseits ist die Reaktion - nicht nur der feministischen - Presse geradezu enthusiastisch: „Dieses Buch verspricht, dem Feminismus in aller Welt die Basis zu geben.“ (Women’s International Network News, USA), „eines der wichtigsten Bücher, wenn nicht vielleicht das Wichtigste der deutschen Frauenbewegung“ (Courage), „mit Sicherheit die gründlichste, umfangreichste und wichtigste Publikation der letzten Jahre zu diesem Thema“ (Zeit), „als Grundlage für die weitere Diskussion über die vielfältigen Ursachen der Frauenunterdrückung (…) vorläufig unersetzbar (FAZ), „feministische Publikation, die ernst genommen werden muss“ (Bild der Wissenschaft), „das bislang wohl wichtigste Buch über den Feminismus“ (Wirtschaftswoche), „ein grundlegender Beitrag zur feministischen Theorie“ (Westfälische Rundschau), „Total-Kompendium der Frauenfrage“ (Neue Zürcher Zeitung), „ein hochintelligentes Buch“ (Brigitte).
Auf der anderen Seite stößt Jurreits unabweisbare Analyse der ideologischen Grundlagen patriarchalischen Denkens aber auch auf gewaltige Abwehr.
Einer ihrer Hauptgegner ist der in der deutschen Linken großes Ansehen genießende Ernest Borneman, der im Rundfunk (Deutschlandfunk, WDR) und in so unterschiedlichen Blättern wie den linken Zeitschriften konkret und das da oder der CDU-nahen Deutschen Zeitung eine breit angelegte regelrechte Diffamierungskampagne betreibt, in der er ihr Buch als „feministischen Abort“ bezeichnet und Marielouise Jurreit „psychische Privatprobleme“ unterstellt. Borneman, der Verfasser von „Das Patriarchat“, befindet sich auf dem Rachefeldzug gegen Jurreit, die im sozialdemokratischen Vorwärts einen Verriss seiner Schrift veröffentlicht hat. Darin kritisiert sie das „Patriarchat“ als unwissenschaftlich, als „abschreckendsten Beleg für die Verfälschung archäologischer Erkenntnisse“. Seine zentrale These eines universalen Urmatriarchats hält sie für reine Spekulation. Mit seinen Aussagen „über die sexuellen Empfindungen von Menschen der Altsteinzeit“ „überschreite er die Grenzen der Forschung“. Diese Art des Vorgehens rücke ihn „in die Nähe von Erich Däniken“.
Hier erfahren Sie mehr über die Frau, die dieses feministische Standardwerk verfasst hat, warum es für die Frauenfrage so bedeutsam ist und was genau unter dem Begriff „Sexismus“, der von Jurreit in Deutschland eingeführt wurde, zu verstehen ist.
Herkunft und beruflicher Einstieg in München und Paris
Marielouise Jurreit wird 1941 in Dortmund geboren und wächst in einer kleinbürgerlichen Familie auf. Es ist eine Kindheit voller Nachkriegsarmut, aber auch voller aufregender Lektüre. Trümmergrundstücke, wo mitten im Schutt Birken und Linden sprießen, gehören zu ihren frühsten Erinnerungen, sie spielt zwischen Bomben- und Artilleriekratern.
1960 - mit neunzehn Jahren - zieht sie nach München – mitten in die Schwabinger Bohème, unter Theater- und Filmleute. Sie hat sich in einen Schauspieler verliebt, der doppelt so alt ist wie sie. Zwei Wochen vor der Hochzeit geht die Beziehung auseinander. Sie jobbt beim Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Dann arbeitet sie fast ein Jahr in der Werbe- und Marketingabteilung des Quick-Verlages. In der Kantine von Quick lernt sie u.a. Traudl Junge, die Sekretärin von Hitler und eine Sekretärin von Himmler kennen, ohne zunächst von ihrer Rolle im Dritten Reich zu erfahren. Sie bewirbt sich bei der Journalistenschule, wird aber abgelehnt.
Daraufhin beschließt Jurreit 1962 nach Paris zu gehen. Sie wird Au-pair-Mädchen bei einer reichen Bankierswitwe in St. Germain-des-Prés. In deren riesiger Wohnung hatte zwei Jahrhunderte zuvor der berühmte Herzog Saint Simon seine Memoiren geschrieben, seine Erlebnisse mit Ludwig dem Vierzehnten am Hof von Versailles und dessen Maitressen. Madame ist so geizig, dass Jurreit bei den kärglichen Mittagessen, die sie gemeinsam an einem vier Meter langen Tisch, sich an den langen Enden gegenübersitzend und ein Frankfurter Würstchen teilend, einnehmen, fast verhungert wäre. Sie nimmt noch andere Stellungen an, arbeitet u.a. als Austernverkäuferin und Praxishilfe bei einer Psychiaterin. Um etwas mehr Geld zu verdienen, beginnt sie, kleine Texte zu verfassen, die ein Freund von ihr in Deutschland verkauft. Über ihre kuriosen Erlebnisse bei Madame schreibt sie ihre erste Reportage für die Münchener Zeitschrift Twen. Als ihr daraufhin ein Volontariat angeboten wird, kehrt sie 1964 nach München zurück.
Journalistin und Mutter in München
Einige Monate später wird Marielouise Jurreit schwanger. Als sie ihre Verlegerin und ihren Chefredakteur darüber informiert, wird ihr zwar nicht gekündigt, aber nahegelegt, nicht mehr ins Büro zu kommen, als ihre Schwangerschaft sichtbar wird. Ihr sich vorwölbender Bauch sei nicht sehr ästhetisch. 1965 bringt sie eine Tochter zur Welt. Der Vater ihres Kindes ist verheiratet, die Ehefrau willigt nicht in die Scheidung ein. Nach damaligem Recht (bis 1977) ist eine Scheidung unmöglich, wenn ein Ehepartner nicht einverstanden ist. Ebenfalls nach damaligem Recht (bis 1970, bis 1998 gilt noch Amtspflegschaft!) wird ihr als lediger Mutter die Vormundschaft für ihre eigene Tochter nicht erteilt. In zweiwöchigen Abständen wird sie vom Sozialamt besucht, das kontrolliert, ob sie als Mutter ihren Pflichten nachkommt. Am Tag nach der Entbindung erscheint ein katholischer Pfarrer in ihrem Klinikzimmer, der ihr als Wiedergutmachung für ihre ‚Sünde‘ vorschlägt, ihre neugeborene Tochter zur Adoption freizugeben. Zwei Stunden später taucht ein evangelischer Pastor auf, der ihr rät, ihren Lebenswandel zu überprüfen. Ergebnis dieser Besuche ist, dass sie ihre Tochter nicht taufen lässt.
Als Alleinerziehende ist es für sie kaum machbar, beruflichen und familiären Anforderungen gerecht zu werden. In der Redaktion wird keine Rücksicht auf ihre Situation genommen und von ihr erwartet, auch bis in die Abendstunden hinein zur Verfügung zu stehen. Der Vater ihres Kindes finanziert ihr anfangs ein Kindermädchen, später ist sie gezwungen, ihre Tochter zeitweise zu ihrer weit entfernt wohnenden Mutter zur Betreuung zu geben.
Bei Twen hat Jurreit, die mittlerweile in der Redaktion arbeitet, alle journalistischen Freiheiten. Sie kann sich viele Themen selbst wählen. 1968, als die Studentenrevolte ihren Höhepunkt erreicht, schreibt sie über die Frauen des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und über die Weiberräte in Berlin und Frankfurt. Sie berichtet über witzige Aktionen einer Münchner Frauenkommune gegen Polizei und Richter sowie über die Aktionen der holländischen „Dollen Minas“.
Reisen in die ganze Welt
In der Zeit von 1966 bis 1972 unternimmt sie zahlreiche große Reisen. Sie fährt in Afrika nach Äthiopien, Kenia, Tansania, Rhodesien (heute Simbabwe), in Nordafrika nach Algerien und Marokko, später in den Senegal, nach Ghana, Südafrika und Madagaskar. In Asien besucht sie die Länder Pakistan, Indien, Nepal, Burma, Thailand, Sri Lanka, Hongkong, Vietnam, Singapur, Malaysia, Japan und die Philippinen. Und sie bereist auch Australien und Neuseeland. Damals gibt es noch keinen Massentourismus. Jurreit trifft auf Länder, die sich gerade vom Kolonialismus befreit haben. Sie schreibt Reportagen über deutsche Frauen, die einen Afrikaner oder Asiaten geheiratet haben, in denen sie schildert, wie sie das Heimatland ihres Ehemannes erleben und was die Begegnung mit der fremden Kultur ihnen bedeutet. Diese Beiträge macht sie sehr gerne, weil sie darin ethnologische, kulturelle, familienrechtliche und politische Aspekte unterbringen kann. Sie erscheinen unter einem Pseudonym in der Zeitschrift Brigitte.
Für Twen schreibt sie u.a. Reportagen zum 25. Jahrestag des Abwurfs der Bombe auf Hiroshima. In Japan ist die Stadtgesellschaft gespalten in Hibakushas, Überlebende und soziale Aufsteiger, die die Bombe vergessen wollen. Danach fliegt sie nach Vietnam, berichtet über den Buschkrieg der US-Marines, von denen sie eine Gruppe bei ihrem Einsatz begleitet und beinahe getötet wird. Dieses Genre von umfangreicher literarischer Reportage, angereichert mit Hintergrundinformationen, ist in den heutigen Medien fast ausgestorben.
Als sie sich beruflich in Pakistan aufhält, hat sie ein erschütterndes Erlebnis bei dem Besuch einer reichen pakistanischen Familie, die mit ein paar hundert Familienangehörigen auf einem riesigen Landgut lebt.
„Es gab eine eigene Schule, die nur die kleinen Jungen besuchen durften, und eine Moschee. Vor allem aber gab es einen Harem, einen Frauentrakt, den die Frauen nicht verlassen durften. Diese Frauen waren von der Außenwelt so abgeschnitten, dass keine Informationen in ihren Trakt gelangten. (…) In den engen Gassen des Frauentrakts mussten sie sich trotzdem verschleiert bewegen, auch wenn nur ihre Ehemänner und Cousins Zutritt hatten. Ich traf dort Fünfundzwanzigjährige mit großen Zahnlücken, die von ihrem dreizehnten Lebensjahr an ständig schwanger gewesen waren. Sie sahen aus wie Matronen. Viele hatten die Arme fast bis zur Schulter mit Goldreifen bedeckt. Da sie nach muslimischem Recht jederzeit verstoßen werden konnten oder ein oder zwei weitere Ehefrauen ihres Mannes hinnehmen mussten, versuchten sie, ihren Männern ständig Gold abzuschmeicheln. Ihre Rückversicherung für den Fall, dass sie zu ihren Eltern zurückgeschickt wurden.“
Feminismus in New York
Marielouise Jurreits intellektuelles Schlüsselerlebnis ist die Lektüre von Kate Milletts „Sexual politics“, die sie revolutioniert. Das Buch liest sie kurz nach seinem Erscheinen in New York 1970. Unter dem Titel „Sexus und Herrschaft - Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft“ wird es in Deutschland 1971 publiziert. Jurreits feministische Radikalisierung zeigt sich deutlich in ihrer Polemik „Gretchen get your gun! In Amerika kämpfen die Frauen, warum nicht in Deutschland?“, die sie in Twen Ende 1970 zur Diskussion stellt. In diesem Text präsentiert sie auch eigene, neben von ihr übersetzten Gedichten aus Zeitschriften der neuen amerikanischen Frauenbewegung, die der europäischen, was ihr feministisches Bewusstsein und Selbstverständnis angeht, voraus ist. Ihr Text beginnt unmissverständlich:
„Daddy ist auf dem Todes-Trip.
Seine Töchter haben beschlossen, ihn umzubringen.
Seine Geliebten weigern sich,
weiter auf Zehenspitzen um sein empfindliches Ego zu tippeln.
Seine Ehefrauen halten ihn für schädlich.
Daddy ist überfällig, seine Tage sind gezählt“.
Jurreit möchte die Frauen in Deutschland anspornen, sich dem Beispiel der aktiven amerikanischen Feministinnen anzuschließen, wenn sie fragt: „Warum haben wir es nicht geschafft, eigene Zeitschriften herauszugeben, unsere Sisters aufzuklären, Geldgeber(innen) zu finden, Theaterstücke zu produzieren? Diese Fragen kann man an den weiblichen Teil der Apo weitergeben, die ihre elitären Rotfrauenfronten nicht öffnen wollen; an unsere liberalen Journalistinnen, an unsere Schriftstellerinnen, die das Thema verschlafen. Warum versagen wir so? (…) Wenn wir noch zehn Jahre warten, ist Daddy vielleicht schon lange weg, und wir werden Vati immer noch haben! Gretchen, get your gun!“
Anfang 1971 bekommt Jurreit als einzige Frau den Auftrag, über den legendären Weltmeisterschaftskampf zwischen Muhammad Ali und Joe Frazier zu berichten. Dazu hält sie sich drei Wochen in Miami Beach in Alis Trainingslager auf. Ali verliert den Kampf, aber er bleibt trotzdem für die Hälfte Amerikas der Größte wegen seiner Wehrdienstverweigerung und seiner Ablehnung des Krieges in Vietnam. Während des Trainings von Ali trifft Jurreit halb Hollywood und TV-Größen, die bei dem Kampf im Madison Square Garden dabei sein wollen. Ihr Bericht erscheint in der letzten Ausgabe von Twen zusammen mit Alis Zeichnungen, die er ihr überlassen hat. Das Magazin wird eingestellt.
Jurreit versucht, sich einige Monate in New York über Wasser zu halten. Außerdem beabsichtigt sie, eine Anthologie mit feministischen Gedichten amerikanischer Autorinnen herauszubringen. Sie befreundet sich mit der Schriftstellerin und Poetin Erica Jong, die sie auch berät bei der Auswahl der Dichterinnen, die Jurreit treffen solle. Dabei lernt sie u.a. Louise Glück kennen, die 2020 für ihr lyrisches Werk den Nobelpreis für Literatur gewinnt. Doch für ihre geplante Anthologie findet Jurreit keinen Verleger.
Wieder zurück in Deutschland bewirbt sich Marielouise Jurreit bei einer links geltenden großen Zeitschrift. Ihr Vertrag liegt schon unterschriftsreif vor, als der ihr unbekannte Abteilungsleiter erklärt, es sei doch wohl klar, dass sie ab und zu mit ihm schlafen müsse, die kleine Gefälligkeit könne er doch von ihr erwarten. „Ich war unfähig, zu reagieren und ein Wort herauszubringen. Ich verließ wortlos den Raum und fühlte mich so ohnmächtig, wie danach nie wieder. Ich zitterte am ganzen Leib. Mich damals juristisch zu wehren, war unmöglich, sonst hätte ich auch bei anderen Zeitschriften oder Zeitungen nie wieder einen Auftrag bekommen. Ich entschloss mich, vertrauend auf meine Jugend und mein Können, von da an freiberuflich zu arbeiten.“
Frauenbewegung in Bonn und Mexiko-City
Im Jahr 1972 kommt Marielouise Jurreit nach Bonn. Im vorausgegangenen Bundestagswahlkampf hatte sie Kandidatinnen aller Parteien bei ihren Auftritten begleitet. Der Anteil von Frauen im Bundestag ist mit 5,8 Prozent auf dem tiefsten Stand seit 1949 und noch niedriger als in den meisten Reichstagen der Weimarer Republik! Als Jurreit die gewählten weiblichen Abgeordneten an ihrem ersten Sitzungstag wiedertrifft, irren einige herum auf der Suche nach einer Damentoilette. Es gibt nur eine, Herrentoiletten dagegen überall im Gebäude. „Die Zahlenverhältnisse der WCs beleuchteten die Machtverhältnisse.“
Jurreit bleibt in Bonn, sie erhält von der Zeitschrift Brigitte den Auftrag, eine Serie über die Frauenpolitik der Bundesregierung seit 1949 zu schreiben. Sie bekommt ein Interview mit Willy Brandt, das unter dem Titel „Wollen Sie ein Bundeskanzler der Gleichberechtigung werden?“ 1973 erscheint. Als sie ihm genau diese Frage stellt, meint er, dass könne erst die Geschichte entscheiden, aber er könne heute schon sagen, dass keine Regierung zuvor mehr in diesem Land für die Frauen getan habe. Es wird in diesem Interview deutlich, dass Brandt für die Emanzipation der Frauen zwar offen ist, aber der Frauenfrage keine zentrale Bedeutung beimisst. Er sieht die SPD in der Frauenfrage viel zu positiv, z. B. wenn er behauptet, es gebe keine Partei, bei der der wirkliche Einfluss von Frauen größer sei als in der SPD. Und das angesichts eines Anteils weiblicher SPD-Abgeordneter im 7. Bundestag von 5,4 Prozent, der zudem noch unter dem der CDU liegt! Brandts Frauenbild ist konservativ, er spricht sich nicht für das Leitbild der lebenslänglich berufstätigen Frau aus, sondern verteidigt auch das Leitbild der Nur-Hausfrau. Seine historischen Kenntnisse über die Lage der Frauen und ihre Kämpfe und Forderungen der letzten hundert Jahre beschränken sich auf die Lektüre von August Bebels Darstellung „Die Frau und der Sozialismus“.
Von der Bundeszentrale für Politische Bildung wird Jurreit aufgefordert, Elisabeth Selbert, eine der vier Mütter des Grundgesetzes, in Kassel zu interviewen. Sie verbringt fast drei Tage mit der Anwältin, die 1948/49 für die SPD im Parlamentarischen Rat saß und den Artikel 3 des Grundgesetzes durchsetzte: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Jurreit erlebt die bereits 77jährige als eine Frau mit herzlicher Ausstrahlung und lebenspraktischer Vernunft, als eine Frauenkämpferin, dabei in erster Linie Sozialdemokratin, die sich nicht als Feministin versteht. Den Feminismus der neuen Frauenbewegung, der eine andere Vorstellung von der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern hat und die sexuelle Selbstbestimmung und Verfügung über den eigenen Körper verlangt, teilt Elisabeth Selbert noch nicht, da sie aus einer anderen Generation stammt. Nachdem Jurreit drei Folgen über die Frauenpolitik in der Bundesrepublik verfasst hat, lehnt Brigitte ihre Texte als zu kritisch ab, ein Kollege übernimmt ihre Aufgabe.
In dieser Zeit heiratet Marielouise Jurreit und zieht nach Godesberg. Wenn sie ihren Mann zu politischen Empfängen begleitet, ist die erste Frage an sie: „What is your husband doing?“ Wie viele Frauen ihres Alters, die sich wie sie der SPD nahe fühlen, aber dort auf Unverständnis stoßen, ist sie darüber frustriert. Sie engagiert sich im Bonner Frauenforum, einer Gruppe von etwa dreißig Bonner Frauen, die sich einmal pro Woche im Hinterzimmer eines Bonner Hotels treffen, enttäuscht von der Bonner Frauenpolitik und allen Parteien.
1975 wird von der UNO zum Internationalen Jahr der Frau erklärt. Das Frauenforum beschließt eine handfeste Aktion zur Eröffnungsveranstaltung am 9. Januar in der Beethovenhalle, die unter der Schirmherrschaft der Präsidentin des Deutschen Bundestages Annemarie Renger steht. Zu dieser Feier hat die damalige Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit Katharina Focke, die nicht als Ministerin, sondern nur als Minister angeredet werden will, keine Feministinnen eingeladen, stattdessen Bischof Tenhumberg und den Arbeitgeberpräsidenten Hans Martin Schleyer, dazu konservative Frauenverbände und Gewerkschafter!
„Wir verkleideten uns als Putzfrauen mit Kopftüchern und bewaffneten uns mit Eimern, Schrubbern, Bratpfannen und Kochlöffeln und ketteten uns mit einer fünfzehn Meter langen Stahlkette an ein Geländer vor der Beethovenhalle, an dem die Gäste vorbeigehen mussten. Dazu starteten wir einen ohrenbetäubenden Lärm und sangen ‚Schöne Reden sprengen unsere Ketten nicht!‘“ ©
Sie verteilen einen Offenen Brief an Annemarie Renger, den Jurreit im Namen des Frauenforums verfasst hat. Darin heißt es: „Wir haben genug von einem Staat, in dem wir zwar die Hälfte der Bevölkerung bilden, aber an dem wir keinen Anteil haben. (…) Wir schlagen Ihnen als Geräuschkulisse für Ihre erlauchte Versammlung das Kindergebrüll in einem Beton-Silo des sozialen Wohnungsbaus vor (…) anstelle der besinnlichen dezenten Kammermusik, die sie als Rahmenprogramm angesetzt haben. (…) Die Plätze der Ehrengäste gebühren den Putzfrauen von Bonn, die die Ministerien reinigen, damit eine Elite von Männern uns regieren, verwalten und unterdrücken kann.“ Der Protest des Frauenforums erregt Aufsehen, die lokale Presse berichtet.
Paragraf 218 des Strafgesetzbuches stellt seit 1871 jeden Abbruch einer Schwangerschaft grundsätzlich unter Strafe. 1971 bekennen im Magazin Stern 374 Frauen, darunter auch Prominente, dass sie abgetrieben haben. Auf die Forderung der Frauenbewegung nach ersatzloser Streichung des § 218 reagiert die Regierungskoalition aus SPD und FDP im Juni 1974 mit der ‚Fristenregelung‘. Künftig dürfen danach Frauen nach gesundheitlicher und sozialer Beratung in den ersten drei Monaten einer Schwangerschaft straffrei abtreiben. Gegen diese Neuregelung klagen 193 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und fünf konservative Landesregierungen beim Bundesverfassungsgericht. Dieses verwirft im Februar 1975 die ‚Fristenregelung‘. Das Gericht begründet das Urteil u.a. mit der deutschen Schuld im Dritten Reich, wodurch das ungeborene Leben größeren Schutzes bedarf. Es argumentiert außerdem, durch eine Abtreibung könne sich die Mutter eines möglichen Miterben entledigen. Das Frauenforum demonstriert gegen dieses Urteil und Marielouise Jurreit verliest vor dem Bonner Rathaus ihren Offenen Brief an Carl Carstens, den damaligen Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (abgedruckt in: Janssen-Jurreit 1986, S. 341-345). Sie schreibt: „Dieses Internationale Jahr der Frau wird in die deutsche Geschichte eingehen als das Jahr, indem Frauen im Namen der Verfassung mithilfe der CDU/CSU entmündigt wurden (…), indem Frauen in der Bundesrepublik jede Hoffnung auf wirkliche Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aufgeben mussten“. Erst 1995, zwanzig Jahre später, wird eine grundgesetzkonforme Regelung gefunden, nach der bleibt Abtreibung zwar grundsätzlich rechtswidrig, von Strafverfolgung wird aber seither innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen bei Vorliegen einer vorschriftsmäßigen Beratung abgesehen.
Im Juni 1975 findet die erste Weltfrauenkonferenz der UNO mit Delegationen aus 133 Ländern statt. Die Initiative einer Weltkonferenz zum Thema Frauen geht von amerikanischen Feministinnen aus, die in New York, dem Hauptsitz der UNO, in engem Kontakt mit weiblichen UN-Delegierten stehen. Kein Land ist erpicht darauf, eine Frauenkonferenz auszurichten. Schließlich findet sich mit Mexiko-City, der Hauptstadt des lateinamerikanischen Machismo, ein Tagungsort, den Mexikos Präsident anbietet, weil er mit dem Posten des UN-Generalsekretärs liebäugelt. Marielouise Jurreit fährt hin. Von der offiziellen Konferenz erwartet sie nicht allzu viel. Dennoch ist sie - wie auch andere westliche Delegierte – enttäuscht und wütend, dass über weite Strecken das Wort ‚Frau‘ gar nicht mehr in der Diskussion auftaucht. Die einzige Delegationsleiterin, die dagegenhält, ist die australische Feministin Elizabeth Reid. Die Unterdrückung der Frau in allen bestehenden Gesellschaften fasst sie unter dem Begriff „Sexismus“ zusammen, der ebenso verdammt werden müsse wie Rassismus, Neokolonialismus und Imperialismus. Die „Bekämpfung des Sexismus“ findet aber in keine einzige der UN-Resolutionen Eingang, stattdessen wird die „Eliminierung des Zionismus“ aufgenommen - das erste Mal in einem UN-Beschluss! -, was die israelischen Frauen zum Weinen bringt. Schließlich wird aber von den Delegierten, die das Thema Frau eigentlich nicht interessiert, mit großer Mehrheit ein Weltaktionsplan zur Verbesserung der Stellung der Frau angenommen. Kurz darauf ruft die UNO das Jahrzehnt von 1975 bis 1985 zur Dekade der Frau aus.
Im Gegensatz zur Weltfrauenkonferenz ist die Tribuna, ein parallel dazu stattfindendes Forum von Nichtregierungsorganisationen, das von über 6000 Frauen aus achtzig Ländern besucht wird, nach Jurreit ein „Meilenstein in der Geschichte der Frauen“. Bekannte amerikanische Feministinnen wie Betty Friedan, Germaine Greer und Gloria Steinem sind vertreten. Das Thema ‚Feminismus und Imperialismus‘ führt zu tagelangen heftigen Diskussionen. Die Frauen der reichen Industrieländer werden hier mit den Erfahrungen der Frauen aus den armen Entwicklungsländern konfrontiert. Sie hören erstmalig von Klitorisbeschneidungen an Frauen in Afrika, von Kinderbräuten und Morden an Schwiegertöchtern in Indien, von japanischem Sextourismus in Südkorea, von brutalen Vergewaltigungen in chilenischen Gefängnissen und davon, dass die Entwicklungshilfe die Frauen nicht erreicht.
„Sexismus“ – ein neuer Begriff
Als Marielouise Jurreit von der Weltfrauenkonferenz zurückkehrt, fasst sie den Plan, den Begriff „Sexismus“ auch im deutschen Sprachraum durchzusetzen. Sexismus, die Herrschaft eines Geschlechts über das andere, ist mehr als nur die „Benachteiligung der Frau“ oder die „traditionelle Rollenverteilung“, er bezeichnet nach Jurreit „immer Ausbeutung, Verstümmelung, Vernichtung, Beherrschung, Verfolgung der Frauen. Sexismus ist gleichzeitig subtil und tödlich und bedeutet die Verneinung des weiblichen Körpers, die Gewalt gegenüber dem Ich der Frau, die Achtlosigkeit gegenüber ihrer Existenz, die Enteignung ihrer Gedanken, die Kolonialisierung und Nutznießung ihres Körpers, den Entzug der eigenen Sprache bis zur Kontrolle ihres Gewissens, die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, die Unterschlagung ihres Beitrags zur Geschichte der menschlichen Gattung.“ Sexismus ist das männliche Monopol der Welterklärung, ist die „Perspektive eines Herrenabends“, die vorherrschende Sicht des Mannes, die sich als die allgemeine ausgibt. „Sexismus ist die unentwegte offene und unterschwellige Degradierung durch die Inhalte einer vom Mann dominierten Kultur.“
„Sexismus“ – ein Grundlagenwerk des Feminismus
Die Veröffentlichung von Marieluise Jurreits Buch „Sexismus“ fällt in eine Zeit, als die Frauenbewegung ihre Aktivitäten und Themen erweitert und sich eine feministische Gegenkultur entwickelt.
Es entstehen zahlreiche autonome Frauenprojekte wie Frauenbuchläden und -verlage, Frauenkneipen, Frauengesundheitszentren, Selbsterfahrungsgruppen etc. Feministische Zeitschriften werden gegründet. 1976 findet die erste Berliner Sommeruniversität statt, das erste Frauenhaus wird eröffnet.
In Teil I zeigt Marielouise Jurreit das Unterschlagen von weiblichen Leistungen und Befreiungskämpfen in der Geschichtsschreibung auf. Das führe dazu, dass Frauen Geschichte überhaupt nicht auf sich bezögen und dass eine Identifikation von Frauen mit männlichen Akteuren und ihren Werten erzeugt werde. In Teil II widerlegt sie die These eines Matriarchats als Urzustand, aus dem das Patriarchat hervorging und beweist, dass es die Unterdrückung der Frau schon vor der Entstehung des Privateigentums gab. In Teil III setzt sie sich mit dem Streit zwischen Feminismus und Sozialismus auseinander und führt an Beispielen vor Augen, dass ‚Klassenbefreiung‘ in erster Linie Männerbefreiung bedeutete. In Teil IV demonstriert sie, dass das Erreichen des Frauenstimmrechts nicht dazu führte, die Emanzipation der Frauen zu befördern, sondern sogar zum Scheitern der ersten Frauenbewegung beitrug. Teil V behandelt die Frage der nicht naturwüchsigen
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung sowie der Unsichtbarkeit der Hausarbeit. Teil VI thematisiert Sexualität und Fortpflanzung sowie den Mutterkult als Unterdrückungsinstrument. In Teil VII weist sie nach, dass körperliche Gewalt gegen Frauen als ein allgemeines Kennzeichen menschlicher Gesellschaft angesehen werden muss. Teil VIII untersucht die Bewusstseinsstrukturen des Sexismus wie Rollenstereotype und Sprache, die „Genitalien der Rede“. Im Schlussteil IX entwirft Jurreit Ziele und Strategien für einen zukünftigen Feminismus.
Marielouise Jurreit beginnt ihr Buch mit der Gegenüberstellung von Hedwig Dohm und Katia Mann, Großmutter und Enkelin einer Familie, zwischen denen Welten liegen. Hedwig Dohm (1833-1919) ist die radikalste Frauenkämpferin ihrer Zeit. Mit spitzer Feder, beißendem Spott und hellsichtiger Analyse streitet sie für die vollständige Emanzipation der Frau und fordert schon 1876 als Ziel aller Frauenkämpfe, als „Schritt über den Rubikon“, das Frauenstimmrecht. Dieses Machtinstrument sei die Basis für die Verbesserung von Ehe-, Schul- und Arbeitsrecht im Sinne der Frauen. In den Erinnerungen ihrer Enkelin Katia Mann (1883-1980), Ehefrau des Schriftstellers Thomas Mann, finden sich die revolutionären Ideen und radikalen Einsichten der Großmutter nicht. Ihre Memoiren enthalten Äußerungen, die der Großmutter als frauenfeindlich und unreflektiert gegolten hätten. So beginnt sie ihre Aufzeichnungen mit dem Satz: „Mein Vater war Professor der Mathematik, und meine Mutter war eine sehr schöne Frau.“ Den Beruf der Mutter, die eine renommierte Schauspielerin war, unterschlägt sie. Oder sie äußert, wie unangenehm ihr immer die Geburt von Töchtern war. Ihr Studium - sie gehört zur ersten Studentinnengeneration in Deutschland - bricht sie 1905 wegen ihrer Heirat ab, sehr zum Bedauern der Großmutter, die zeitlebens für das Recht auf universitäre Frauenbildung gestritten hatte.
Dieses Stück Familiengeschichte zeigt, wie feministische Erkenntnisse innerhalb von zwei Generationen in der gleichen Familie versickern konnten, und spiegelt zugleich den Niedergang der ersten Frauenbewegung wider, die mit der Einführung des Frauenstimmrechts spurlos verschwindet und sogar in Vergessenheit gerät. Stattdessen wird nach der Einführung des Wahlrechts für Frauen unter dem Begriff der „Gleichberechtigung der Frau“ nur verschleiert, dass die Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen sich nicht grundsätzlich änderten. Immerhin konnte auf kleine Verbesserungen und Reformschritte verwiesen werden. Marielouise Jurreit fasst zusammen: „Der politische Kampf der Frauen des letzten Jahrhunderts scheiterte daran, dass sie für ihre Töchter und Enkelinnen nur formale Rechte durchsetzen konnten. Die Zerstörung der androzentrischen Perspektive, bei der der Mann im Mittelpunkt aller gesellschaftlichen Betrachtung steht, gelang der ersten internationalen Frauenbewegung nicht.“
Was unter „Gleichberechtigung im Patriarchat“ Anfang der 1970er Jahre zu verstehen ist, mögen einige typische Zitate veranschaulichen, die aus Interviews Marielouise Jurreits mit Abgeordneten des 7. Bundestages stammen:
„Ich als Mann empfinde es als angenehmer, statt dieser frustrierten Emanzipationsforderungen nun mit Politikerinnen zusammenzuarbeiten, die etwas mehr Charme haben, die uns auf liberale Familienpolitik hinüberführen. Wir brauchen Fachpolitikerinnen und nicht Frauenpolitikerinnen in der Partei.“ (FDP)
„Die letzten drei Generationen Blaustrümpfe waren nicht besonders aufregend. Es gibt komplettere Aufgaben als den Kampf für Frauenrechte.“ (SPD)
„Früher sind viel zu viele Damen, weil es mit dem männlichen Geschlecht nicht geklappt hat, in die Politik gegangen. Der Prozentsatz der Frauen, die ein körperliches Gebrechen haben in der Landes- und Kommunalpolitik, ist unverhältnismäßig viel höher als der der Männer, die einen körperlichen Fehler haben.“ (CDU)
„Ich habe etwas gegen die Partout-Frauen, die den Finger heben und sich melden und anfangen, wir Frauen … Meine Frau ist mir lieb in den eigenen vier Wänden, aber nicht in Versammlungen. (...) Die Frau Brandt, die macht das geschickt, die glänzt durch Schönheit – die bringt ihren Mann nicht in Verlegenheit.“ (CSU)
Mich fasziniert an Jurreits „Sexismus“-Studie vor allem, wie sie Glanz und Elend der ersten Frauenbewegung schildert und die Gründe für ihren Niedergang beschreibt und reflektiert. Rita Süssmuth bewertet 1989 das Buch so:
„Aus heutiger Sicht betrachtet ist diese Gesamtanalyse des Patriarchats noch genauso richtig wie damals. Viele Themenbereiche sind seit 1976 durch die sich immer mehr etablierende Frauenforschung noch eingehender durchleuchtet und aufgearbeitet worden, wobei die Interpretationen von Marielouise Janssen-Jurreit durchaus bestätigt wurden“. Und bis heute gilt: Wer sich für die Aufarbeitung der Geschichte der Frauen und eine gründliche Analyse des Phänomens „Sexismus“ interessiert, der oder dem sei die Lektüre dieses spannenden, gut geschriebenen Grundlagenwerks nach wie vor empfohlen.
Weitere feministische Bücher
Ein Kritikpunkt aus der Frauenbewegung an ihrer „Sexismus“-Studie ist das Fehlen von Lösungsansätzen. Marielouise Jurreit antwortet darauf 1979 mit ihrem Buch „Frauenprogramm“, in dem sie als Herausgeberin fast vierzig Autorinnen versammelt, die sich in ihrem Fachgebiet auskennen und die Frauenbewegung unterstützen. Es ist eine sorgfältige Bestandsaufnahme der bundesdeutschen Gesetzeslage sowie faktischer und indirekter Diskriminierung von Frauen. Das Ergebnis ist deprimierend. Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist zwar im Grundgesetz verankert, entspricht aber nicht der Wirklichkeit. „Frauenprogramm“ bleibt nicht allein bei der Bilanz stehen, sondern macht auch konkrete Reformvorschläge im Bereich von Erziehung und Werbung, für Ausbildung, Arbeitsplatzvergabe und Bezahlung, gegen Ungleichbehandlung durch öffentliche Arbeitgeber, für Steuern und Renten, gegen sexualisierte Gewalt, gegen Diskriminierung lesbischer Frauen, für die Haftbedingungen von Frauen in Gefängnissen und zum Abbau struktureller Hindernisse in Handwerk und Landwirtschaft. Jurreit stellt sich vor, all diese feministischen Forderungen in einem gemeinsamen Aktionsplan zu bündeln.
1986 gibt Jurreit mit „Frauen und Sexualmoral“ ein weiteres feministisches Buch heraus, in dem die sexuelle Frage, als die für die Frauenbewegung brisanteste im Zentrum steht. Denn: „Die Ursache für die Unterdrückung der Frau in allen Gesellschaften, für die Entstehung patriarchaler Strukturen, liegt in der männlichen Kontrolle der weiblichen Sexualität und Gebärfähigkeit.“ Es werden größtenteils Texte der alten Frauenbewegung abgedruckt und wieder zugänglich gemacht, die in Vergessenheit geraten waren, weil sie in den Geschichtsbüchern fehlten. Hauptaugenmerk gilt dabei der Frage der Abtreibung und der Empfängnisverhütung, aber es geht auch um Prostitution, Doppelmoral, uneheliche Mutterschaft und sexuelle Gewalt. Texte der neuen Frauenbewegung erweitern das Spektrum. Damit wird die historische Linie des Frauenkampfes dokumentiert und Gemeinsamkeiten wie Unterschiede werden sichtbar.
Schatten des Totalitarismus in München und Berlin
1981 verlässt Marielouise Jurreit schweren Herzens Bonn und zieht mit ihrem Ehemann nach München wegen seiner beruflichen Karriere. 1983 trennt sie sich von ihm. Sie arbeitet als freie Autorin für Stern, Spiegel, Süddeutsche Zeitung und Brigitte. Eine Festanstellung im Journalismus bleibt ihr verwehrt, weil sie als Verfasserin von Sexismus abgestempelt ist. Sie gilt als „Berufsfeministin“, was sie nie werden wollte. Überall, wo sie auftritt, werden feministische Utopien von ihr eingefordert. Sie versteht sich aber eher als Kritikerin und Skeptikerin, der Analysen und der Kampf für Ziele wichtiger sind als phantastische
Zukunftsentwürfe.
Daher wendet sie sich einem anderen Thema zu, das sie umtreibt, der Frage der brüchigen Identifikation der Deutschen mit Deutschland, ihrem gestörten, verletzten Nationalgefühl. 1985 bringt sie das Buch „Lieben Sie Deutschland? Gefühle zur Lage der Nation“ heraus. Jurreit erhofft sich von den Äußerungen von über vierzig Männern und Frauen in diesem Band „Einblicke in das Gewebe von Widersprüchen, Idealisierungen, Zerrissenheiten, Empfindlichkeiten, Absurditäten, Neurosen, die unser Verhältnis zu diesem Land bestimmen.“
Im August 1989 trifft Marielouise Jurreit in Polen Kriegsveteraninnen, die im Warschauer Aufstand von 1944 kämpften und Aktivistinnen der achtziger Jahre, ohne die es zur Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc nicht gekommen wäre. In ihrer umfassenden Reportage „Madonna und Heroine“ dokumentiert sie, wie Frauen die auflagenstarke Untergrundpresse organisierten und - bis heute wenigen bekannt - unter männlichen Pseudonymen Artikel verfassten. Dadurch und weil die Fantasie der Machthaber nicht ausreichte, sich überhaupt weiblichen Widerstand vorzustellen, wurden sie als Frauen vom Regime nicht verdächtigt.
Am 11. November 1989 fliegt Marielouise Jurreit nach Berlin, um die Maueröffnung persönlich zu erleben. Sie entschließt sich noch am selben Wochenende, nach Berlin zu ziehen, um die Veränderungen vor Ort mitzuerleben. Im Jahr der deutschen Einheit 1990 befürchtet sie das Erstarken des Nationalismus, da die Frustration unausweichlich sein werde, wenn schmerzhafte ökonomische Umwandlungsprozesse anstünden und es zu sozialen Verwerfungen käme. In ihrem Artikel „Die deutsche Einheit und die Frauen – Einige längst fällige Bemerkungen“ moniert sie, die Situation der Frauen sei bei der Wiedervereinigung vollkommen ausgeblendet worden.
Während der Berlinale 1991 lernt sie ihren späteren Lebensgefährten Hanns Eckelkamp kennen, den Inhaber mehrerer Filmfirmen in Duisburg. Mit ihm führt sie anfangs eine Wochenendbeziehung, heute leben sie zusammen Tür an Tür in Berlin. Als sein Unternehmen in Schwierigkeiten gerät, übernimmt Jurreit von 1994 bis 1998 bei der Neugründung des legendären Atlas Filmverleihs dessen Leitung. Damit ist sie allein verantwortlich für Programm und Geschäftsführung. Mit „Nightwatch“, einem witzigen Film zwischen Thrill und Horror, erreicht sie Zuschauerzahlen von fast einer
Million.
Im Herbst 2000 erscheint ihr erster Roman „Das Verbrechen der Liebe in der Mitte Europas“, der im Februar 2001 auf Platz Eins der Bestenliste des Südwestfunks steht. Mit „der Mitte Europas“ ist Berlin gemeint. Diese Formulierung stammt aus den Verhandlungen über die Ostverträge. Die bundesdeutschen Vertreter benutzten sie, weil die sowjetische und polnische Regierung nicht erlaubten, das Wort ‚Berlin‘ zu erwähnen. In ihrem Roman geht es um eine ausweglose Liebe vor dem Hintergrund einer die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts (Nationalsozialismus und Stalinismus später Sowjetkommunismus) erleidenden Familiengeschichte. Nori, die Ich-Erzählerin, eine Historikerin, lebt in Bonn als Ehefrau eines hohen Beamten im Bundespresseamt. Sie und ihr Geliebter Adam, ein polnischer Intellektueller, treffen sich in einer Souterrain-Wohnung in Berlin. Die beiden Protagonisten sind von der Nachkriegszeit in ihren Ländern geprägt und traumatisiert. Ihre Liebe scheitert nach Ausrufung des Kriegsrechts in Polen am Ost-West-Konflikt.
Ihr zweiter Roman „Der Antrag“, der im Theater- und Filmmilieu in Berlin spielt, erscheint 2004. Es geht um den alternden Fernsehstar Harry, der zufällig die Berliner Wohnung, in der er als Nachkriegskind wohnte, kaufen kann. Damit beginnt die unaufhaltsame Regression des Antihelden. In dieser Wohnung schaute er als Junge heimlich den Liebesszenen seines Nazivaters zu, der seine Mutter jahrelang betrog. Irgendwann verpetzte der Sohn den Vater, den er nach seinem Auszug nie wiedersah. Als die schwer kranke blutjunge Schauspielschülerin Katja ihm das eindeutige Angebot macht, mit ihm zu schlafen, beginnt eine Obsession, in der Harry die Liebespassion seines Vaters nachlebt, um sich von seinem Verrat zu entschulden. Katja wird selbstbewusst geschildert, sie bestimmt die Rahmenbedingungen im Gegensatz zu vielen Frauen dieser Szene, die sexuell belästigt wurden und es unter „MeToo“ angezeigt haben. Von Liebe handelt dieser Roman eher nicht, sondern mehr von Sex und Tod. Marieluise Jurreit versteht es, dabei Geschlechterklischees aufzubrechen und Männerphantasien als solche zu demaskieren.
Fazit
In ihrem Buch „Sexismus“ spricht sich Marielouise Jurreit für eine feministische Selbstorganisation der Frauen außerhalb von Institutionen wie Parteien und Gewerkschaften aus. Autonome Frauengruppen seien notwendig, um eine selbstbewusste eigene Identität auszubilden und die Geschichte der Frauen in ihr Selbstverständnis zu integrieren. Von der sich unabhängig organisierenden neuen Frauenbewegung ist in der Zeit von 1975 bis 1985 tatsächlich viel erreicht worden. Jurreit selbst sieht es genauso: „Dennoch ist dieses letzte Jahrzehnt ein Triumph für die Frauen gewesen, nur zu vergleichen mit der Blütezeit der internationalen Frauenbewegung zwischen 1900 und 1914.“ Wer konnte damit rechnen, dass der Feminismus sogar in den Parteien ankommen würde? Der Anteil weiblicher Abgeordneter im jetzigen Bundestag liegt bei über dreißig Prozent (allerdings ist er gegenüber dem vorigen Bundestag um fast 6 Prozent gesunken!) und selbst im Bundestag werden heute schon mal feministische Reden gehalten.
Allerdings wird nach Marielouise Jurreit immer noch die „Schlüsselindustrie jeder Gesellschaft“, das Aufziehen von Kindern, als Mutterliebe eingefordert und nicht ökonomisch honoriert, obwohl die „Herstellung der nächsten Generation“ für die Fortsetzung der Gesellschaft unabdingbar sei. Kinderbetreuung und -erziehung sei die zeitraubendste Tätigkeit in jeder menschlichen Gesellschaft. Angesichts dessen wirkten alle familienpolitischen Maßnahmen - wie Mutterschutz, Eltern- und Kindergeld oder Mütterrente - wie caritative Zuwendungen. Für das Ausmaß an Zeitaufwand und Arbeit muss in unseren Volkswirtschaften ein realer Preis gefunden werden. Weibliche Teilzeitarbeit, mangelnde Karrieren und Altersarmut seien die Folgen unserer Gesellschaftsordnung. Solange diese unsere „Schlüsselindustrie“ nicht ökonomisch berechnet und honoriert - ‚bepreist‘ - werde, sei eine wirkliche Gleichberechtigung nicht zu erreichen.
Text: Ulrike Klens
Quellenangaben
Die Rechte an dem oben stehenden Text liegen beim Haus der FrauenGeschichte Bonn e.V. (Öffnet in einem neuen Tab)
Marielouise Jurreit (auch Janssen-Jurreit):
- Sexismus. Über die Abtreibung der Frauenfrage. München 1976
- (Hg.): Frauenprogramm. Gegen Diskriminierung. Hamburg 1979
- (Hg.): Lieben Sie Deutschland? Gefühle zur Lage der Nation. München 1985
- (Hg.): Frauen und Sexualmoral. Frankfurt am Main 1986
- Das Verbrechen der Liebe in der Mitte Europas. Berlin 2000
- Der Antrag. Frankfurt am Main 2004
- Wer hat noch Angst vor Hiroshima?, in: Twen. August 1970
- Vietnam überleben: Sagt Charlie, wir gehen nach Hause!, in: Twen. September 1970
- In Amerika kämpfen die Frauen. Warum nicht in Deutschland? Gretchen, get your gun!, in: Twen. November 1970
- Wollen Sie ein Bundeskanzler der Gleichberechtigung werden?, in: Brigitte 19/1973
- Rezension von Bornemans Buch „Das Patriarchat“, in: Vorwärts. November 1975
- Vor der II. Weltfrauenkonferenz in Nairobi, in: Brigitte 13/1985
- Madonna und Heroine - Polens Frauen im Kampf um Unabhängigkeit und Menschenrechte 1989, in: Brigitte. November 1989
- Die Deutsche Einheit und die Frauen - Einige längst fällige Bemerkungen, in: Brigitte, November 1990
- Ernest Borneman: Feministischer Abort, in: konkret 1/1977
- Ernest Borneman: Kein Ärger und keine Rachsucht (Leserbrief), in: konkret 3/1977
- Rita Süssmuth: „Sexismus“-Kritik und Frauenpolitik, in: Feminin-Maskulin. Friedrich Jahresheft VII. Hannover 1989, S. 69 f
- E-Mails an Ulrike Klens von Oktober 2020 bis Januar 2021