Wie wirken sich Erwartungen von Lehrkräften auf ihre Schüler aus?
Wissenschaftsecke
Erwartungen von Lehrkräften und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Schüler*innen
„Du musst es gar nicht können. Dein Lehrer muss nur denken, dass du es kannst!“ Ist an dieser Behauptung wirklich etwas dran?
Die sozialpsychologische Forschung hat sich ausführlich mit dem Phänomen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung auseinandergesetzt. Diese besteht darin, dass ein Ereignis eintritt, weil erwartet wird, dass dieses eintritt. Als Ende der 1960er Jahre in einer damals bahnbrechenden Studie von Rosenthal und Jacobson (1968) zumindest manche Schüler*innen eine günstigere Intelligenzentwicklung nahmen, weil ihre Lehrkräfte diese erwartet hatten, war die Skepsis in der Fachwelt zunächst groß. Zu schwerwiegend erschienen die methodischen Kritikpunkte an der Untersuchung.
Studien bestätigen Erwartungseffekte auf schulische Kompetenzen
In den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten brachten verschiedenste Studien jedoch Gewissheit: Urteile und Erwartungen von Lehrkräften bezüglich der Leistungsfähigkeit eines Schülers beziehungsweise einer Schülerin wirken sich im Schnitt tatsächlich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung aus (vgl. zsf. Wang et al., 2018). Dieser Effekt wird vor allem dadurch erklärt, dass manche Lehrkräfte Schüler*innen, denen sie viel zutrauen, mit anspruchsvollerem Lernmaterial versorgen, ihnen herausforderndere Aufgaben stellen, mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung geben und mehr emotionale Wärme zeigen als Schüler*innen, denen sie weniger zutrauen (z.B. Rosenthal, 1994). Die meisten dieser Lehrkräfte wenden diese Praxis nicht bewusst an; ebenso gibt es Lehrkräfte, die sich weniger oder anders von ihren Erwartungen leiten lassen. Dennoch finden sich Erwartungseffekte auf schulische Kompetenzen immer wieder, auch in aktuellen Studien.
Weitere direkte Effekte der Erwartungshaltung
Zwar sind die Effekte auf die Fähigkeitsentwicklung relativ klein; interessant und hochrelevant ist jedoch die Frage, ob neben der Fähigkeitsentwicklung auch andere wichtige Bereiche wie die Motivation oder das subjektive Wohlbefinden betroffen sind. Eine aktuelle Studie (Bergold & Steinmayr, 2023) mit über 1000 Neuntklässler*innen aus Gesamtschulen, Realschulen und Hauptschulen sowie deren Mathematik- und Deutschlehrkräften hat nun die Effekte von Lehrkrafturteilen auf die Entwicklung der Jugendlichen in der Mathematikleistung, der Leseleistung, Fähigkeitsselbstkonzepten, intrinsischer Motivation, Bildungszielen und im subjektiven Wohlbefinden über einen Zeitraum von einem Jahr untersucht. Hierbei wurden alle Variablen zusammengefasst in einem Modell betrachtet, um testen zu können, ob alle Merkmale gleichzeitig und direkt von Erwartungen betroffen sind, oder ob es möglicherweise Erwartungseffekte nur auf die Leistung gibt, die sich lediglich indirekt auf die anderen Merkmale auswirken. Effekte auf die nachgelagerten Merkmale würden sich in diesem Fall in der Praxis wahrscheinlich verzögert und abgeschwächt bemerkbar machen, das heißt die Bedeutung von Lehrkrafterwartungen wäre eher begrenzt.
In der genannten Untersuchung fanden sich allerdings voneinander unabhängige Erwartungseffekte auf fast alle betrachteten Bereiche. Wurden Schüler*innen überschätzt, entwickelten sich diese in der Folge fachlich stärker weiter, gewannen aber auch davon unabhängig eine positivere Sicht auf ihre schulischen Fähigkeiten, strebten einen höheren Schulabschluss und eher ein Studium an und entwickelten teilweise auch eine höhere Lebenszufriedenheit. Wurden sie unterschätzt, verlief die Entwicklung in diesen Bereichen weniger günstig. Die Unabhängigkeit der Effekte dokumentiert, dass Lehrkrafterwartungen direkt auf jedes einzelne der untersuchten Merkmale wirken. Erwartungseffekte zum Beispiel auf die Motivation sind also nicht (nur) indirekt durch Erwartungseffekte auf die Leistung bedingt, sondern wirken sich auch direkt auf die Motivation aus, addieren sich also hinzu.
Fazit
Mit ihren Ergebnissen legt diese Studie nicht nur nahe, dass eine Überschätzung pädagogisch günstiger sein könnte als eine korrekte Einschätzung und erst recht als eine Unterschätzung. Sie zeigt vor allem auch, dass sich Erwartungen von Lehrkräften nach dem Gießkannenprinzip auf die Entwicklung von Schüler*innen auswirken. Auch wenn die Erwartungseffekte auf einzelne Bereiche relativ klein sein mögen, addiert sich eine Vielzahl kleiner Effekte zu einem beachtlichen Gesamteffekt auf. Somit wird deutlich, dass Urteile und Erwartungen von Lehrkräften eine hohe Wirkungsbreite besitzen und der Einfluss von Lehrkräften auf die Entwicklung ihrer Schüler*innen erheblich ist.
Literatur
- Bergold, S. & Steinmayr, R. (2023). Teacher judgments predict developments in adolescents’ school performance, motivation, and life satisfaction. Journal of Educational Psychology, 115(4), 642–664. https://doi.org/10.1037/edu0000786 (Öffnet in einem neuen Tab)
- Rosenthal, R. (1994). Interpersonal expectancy effects: A 30-year perspective. Current Directions in Psychological Science, 3(6), 176–179. https://doi.org/10.1111/1467-8721.ep10770698 (Öffnet in einem neuen Tab)
- Rosenthal, R. & Jacobson, L. (1968). Pygmalion in the classroom: Teacher expectation and pupils’ intellectual development. Holt, Rinehart & Winston.
- Wang, S., Rubie-Davies, C. M. & Meissel, K. (2018). A systematic review of the teacher expectation literature over the past 30 years. Educational Research and Evaluation, 24(3-5), 124–179. https://doi.org/10.1080/13803611.2018.1548798 (Öffnet in einem neuen Tab)
Bei weitergehendem Interesse an Literatur wenden Sie sich gerne an Dr. Sebastian Bergold ( sebastian.bergoldbonnde).
Interview zum Schutzkonzept gegen sexualisierte Gewalt
Schutzkonzepte gegen sexuelle Gewalt: Interview mit Herr Werner Meyer-Deters
Im Folgenden finden Sie ein Interview mit Werner Meyer-Deters zu den Fragen, warum ein schulisches Schutzkonzept gegen (sexualisierte) Gewalt so wichtig ist und was ein gutes Schutzkonzept ausmacht.
Was bedeutet es, als Institution ein Schutzkonzept gegen sexualisierter Gewalt zu haben?
Meyer-Deters: Für die Institution bedeutet das vor allem, dass sie für den Kinderschutz Sorge tragen und ihm besser gerecht werden kann. Für die Mitarbeitenden der Institution bedeutet es, dass Handlungssicherheit vorhanden ist, also im Grunde genommen jeder weiß, was er einerseits für die Prävention und andererseits bei Hinweisen auf Gewalt gegen Kinder tun kann, um die nötigen Maßnahmen einzuleiten, die letztendlich zielführend für den Kinderschutz sind.
Das heißt, es geht viel um Handlungssicherheit, es geht darum, eine Orientierung zu haben?
Meyer-Deters: Richtig. Es geht um Handlungssicherheit, aber nicht nur mit Blick auf die Situation bei Hinweisen auf Gewalt gegen Kinder, sondern vor allem bei der Gewährleistung der Kinderrechte, die das Ziel haben, Kinder zu stärken, sie zu befähigen und zu ermutigen, sich Hilfe zu holen, wenn sie Hilfe brauchen. Es geht auch darum, dass die Mitarbeitenden in der Schule als Vertrauensperson gelten in den Augen der Kinder, als jemand, der sich um die kleinen und großen Sorgen kümmert und von dem man weiß, dass er hilft, wenn man in Not ist.
Was macht ein gutes Schutzkonzept aus?
Meyer-Deters: Ins Zentrum eines guten Schutzkonzeptes würde ich rücken, dass man die Perspektive des Kindes einnimmt und vom Kind her denkt. Die Institution sollte sich darüber klar sein, dass es darum geht, die Kinder zu stärken und zu empowern und dass man sich nicht nur davon leiten lässt, dass man den eigenen Laden sauber hält. Ein gutes Schutzkonzept macht auch aus, dass man auf der einen Seite weiß, was man zu tun hat, wenn Kinder in Not sind durch Dritte, also außerhalb der Schule in Not geraten sind, auf der anderen Seite aber auch offen und ehrlich fokussiert, dass es sein kann, dass die Schule selbst Tatort werden kann und Mitarbeitende in der Schule sich fehlerhaft verhalten und vielleicht sogar Kindern – das ist zum Glück die Minderheit der Fälle – mit Vorsatz Unrecht antun.
Sie sagen, dass das die Minderheit der Fälle ist. Was ist denn die Mehrheit der Fälle?
Meyer-Deters: Die meisten Grenzverletzungen gegenüber Kindern geschehen dadurch, dass man ihre Bedürfnisse und ihre Rechte nicht ernst genug nimmt, dass man sie – in der Regel nicht vorsätzlich – klein macht durch Worte, dass man gemachte Zusagen nicht einlöst, dass man vielleicht nicht genug Aufmerksamkeit und Geduld aufbringt, um als Lehrer*innen dem konkreten Bildungs- und Förderauftrag gerecht zu werden.
Wie profitieren die Schulen davon, wenn sie über ein Schutzkonzept verfügen?
Meyer-Deters: Sie profitieren vor allem deswegen von einem Schutzkonzept, weil dann den Lehrer*innen noch einmal bewusster ist, dass alle Kinder ein Recht auf Schutz, auf Förderung, auf Beteiligung und Beschwerde haben. Zweitens erinnert ein Schutzkonzept daran, dass Kinder in jeder konkreten Umgangssituation die Möglichkeit haben sollten, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und mit diesen ernstgenommen werden. Das beinhaltet auch, dass sie sich entscheiden können, ob sie sich auf eine Situation einlassen wollen oder nicht. Und drittens sollten Kinder genauso das Recht haben sich zu entscheiden, ob sie eine Situation verlassen wollen oder nicht. Die beiden letzten Punkte stellen für Lehrkräfte häufig ein Dilemma dar. Es ist für sie nicht immer einfach zu wissen, wie man damit umgeht, wenn es darum geht, Kinder zu etwas zu veranlassen oder auch ihnen etwas zu verbieten. Bisweilen muss man also ihre Autonomiegrenzen überschreiten. Was tue ich denn dann, wenn Kinder widerständig sind? Was tue ich bei Unlust und mangelnder Motivation? Wieweit darf ich eigentlich gehen in dieser Dilemma-Situation, wo ich ihnen etwas abverlangen muss, was sie gar nicht wollen, ohne dass ich dabei den „grünen Bereich“ verlasse? Also, kurz gesagt, jedes Schutzkonzept sollte auch auf diese Dilemma-Situationen eingehen, wenn man über Autonomiegrenzen von Kindern gehen oder aus gesundheitlichen oder fürsorglichen Gründen sogar Intimitätsgrenzen von Kindern überschreiten muss. Damit stärkt ein Schutzkonzept die Handlungssicherheit von Lehrkräften und gibt Sicherheit im Umgang mit diesen Grenzen.
Wie kann eine Schule die Inhalte eines Schutzkonzepts so gestalten, dass es für die gesamte Schulgemeinschaft im Alltag auch spür- und sichtbar wird?
Meyer-Deters: Ich glaube, dass es dafür unverzichtbar ist, ein Schutzkonzept gemeinsam mit Eltern und Schüler*innen oder ihren Vertretungen zu erarbeiten. Das beginnt bei der Struktur- und Risikoanalyse und geht weiter mit der der Potential-Analyse mit Blick auf Schutzfaktoren in der Schule. So sollte man beispielsweise mit Kindern Begehungen machen und die Orte ausmachen, die Unbehagen oder Wohlbehagen ausstrahlen. Man sollte mit den Kindern erarbeiten, nicht nur was ihre Rechte sind, sondern auch was gute Beschwerdegründe sind. Die Lehrer*innen sollten mit den Kindern und Jugendlichen darüber sprechen, was Erwachsene niemals ihnen gegenüber tun dürfen und was strafbar ist. Aber es sollten auch die Verhaltensweisen mit ihnen thematisiert werden, die nicht strafwürdig sind, aber in den Bereich schwarzer Pädagogik gehören, weil Kinder sich verletzt und beleidigt, herabgesetzt, hintenangestellt oder diskriminiert fühlen. Alles das sind ebenfalls gute Beschwerdegründe, die man mit Kindern und Jugendlichen partizipativ erarbeiten kann. Und das ist der Prozess, der die Kinder groß macht und von dem ich mir vorstellen würde, dass er Teil des gelebten Schutzkonzepts ist, das man ja nicht als Konzept, sondern als Prozess, als Möglichkeit der pädagogischen täglichen Arbeit zum Empowern von Kindern versteht.
Was können Sie einer Schule empfehlen, die sich jetzt auf den Weg macht, um ein Schutzkonzept zu entwickeln?
Meyer-Deters: Ich würde der Schule immer externe Unterstützung und Begleitung wünschen, denn man hat automatisch Scheuklappen auf. Ich würde auf jeden Fall der Schule empfehlen, sich über die Grundhaltung gegenüber Kindern und Jugendlichen und über die unveräußerlichen Rechte der Kinder Gedanken zu machen und sie in einer Präambel erst einmal festzuhalten, und zum zweiten den Schutzauftrag für alle verständlich nachvollziehbar als Pflichtaufgabe für alle Lehrer*innen an den Anfang stellen. Also, ich würde sagen, es geht auf der einen Seite um einen Prozess bei der Erarbeitung eines Schutzkonzepts, wo mehr Wissen generiert wird und am Ende mehr Können herauskommt im Umgang auch mit verschiedenen Herausforderungen, vor allem, wenn Kinder in Not sind. Auf der anderen Seite sollte vor allem eine Haltung entwickelt werden, die sensibel ist für die Perspektive von Kindern. Mit welchen Eigenschaften unterstützen wir als Erwachsene Kinder und Jugendliche? Welche Erfahrungen möchten Kinder und Jugendliche mit uns Erwachsenen teilen und welche auch nicht, damit sie uns vertrauen können, wenn sie in Not sind? Zentral ist es, die verschiedenen Aspekte immer wieder aus der Perspektive der Kinder anzuschauen, um die Kinder ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit und unseres Handelns zu stellen.
Zur Person:
Werner Meyer-Deters ist Diplom-Sozialpädagoge, Gewaltberater/Gewalt-pädagoge und Fortbildungsreferent im Bereich Prävention von sexualisierter Gewalt des Erzbistums Paderborn und weiterer Bistümer. Er ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung e.V. (DGfPI).
In seinen vielzähligen beruflichen Tätigkeiten setzte er sich mit den Bedingungen auseinander, unter denen es zu sexualisierter Gewalt kommt, sowie mit den Auswirkungen auf die Opfer und deren Umfeld. Seine fachlichen Schwerpunkte liegen in der Arbeit mit übergriffigen Menschen sowie in der Konzeptentwicklung und Begleitung von Institutionen und deren Mitarbeiter*innen zum Thema sexualisierte Gewalt.
Ängste im Kontext Schule (Video)
Dieses Video fasst Hintergrundwissen zu Ängsten unter Schüler*innen zusammen. Es beschreibt unterschiedliche Formen der Angst, wie sie entstehen können und wie sie sich verfestigen. Ein zweiter Teil folgt in Kürze und geht auf Handlungsmöglichkeiten und Strategien für Lehrkräfte ein. Zu beiden Bereichen finden Sie schon jetzt alle Informationen schriftlich in der Handreichung zum Umgang mit Ängsten.
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Handreichung zum Umgang mit Ängsten
Diese Handreichung vermittelt Lehr- und Fachkräften Grundlagen zum Thema „Ängste im Kontext Schule“, benennt Handlungsmöglichkeiten und verdeutlicht anhand von Fallbeispielen die praktische Umsetzung.
Wie können Lehrkräfte in der Pandemie ihre Schüler*innen stärken? (Video)
Das folgende Video richtet sich an alle Lehrkräfte, die sich Gedanken machen, wie sie ihre Schüler*innen in der jetzigen Situation, nach einer von der Pandemie geprägten Zeit, unterstützen können. Es widmet sich den Fragen, was Kinder und Jugendliche durchgemacht und geleistet haben, welche negativen Auswirkungen dies haben kann und gibt Anregungen, was in der Schule Hilfreiches getan werden kann, damit die Schüler*innen gestärkt werden. Die Fragen im hinteren Teil des Videos können auch unabhängig von der Corona-Situation eine Anregung für den Schulalltag sein. Das Video kann auch genutzt werden, um im Kollegium gemeinsam zu erarbeiten, welche Haltung und konkreten Ansätze diesbezüglich verfolgt werden können.
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